Heribert Prantl beleuchtet ein Thema, das Politik und Gesellschaft (nicht nur) in dieser Woche beschäftigt.
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3. September 2023
Prantls Blick
Die politische Wochenschau
Prof. Dr. Heribert Prantl
Kolumnist und Autor
SZ Mail
Guten Tag,
es wird gefeiert, was das Zeug hält; zurecht: Vor 75 Jahren hat der Parlamentarische Rat mit den Arbeiten am Grundgesetz begonnen. Die Festversammlung zu diesem Jubiläum fand soeben dort statt, wo damals alles begonnen hat: Im Lichthof des Naturkundlichen Museums Koenig in Bonn, inmitten von präpariertem Getier aus aller Welt und den Gerippen von ausgestorbenen Riesenvögeln und Sauriern.

Einen anderen großen Versammlungssaal für den Auftakt hatte man 1948 im kriegsverwüsteten Land nicht gefunden. Die Gorillas, Zebras und Schimpansen waren damals etwas zur Seite geschoben worden, um die Fahnen der Bundesländer aufzustellen. Die Giraffe, zu groß zum Wegschieben, wurde mit grünen Billardtischtüchern verhängt. Weil die Tücher für den langen Hals nicht ausreichten, überschaute sie den Gründungsakt wie eine exotische Patin.

Man kann sich vorstellen, dass die 61 Räte und die vier Rätinnen des Parlamentarischen Rats sich in der künstlichen Savanne des Museums „ein wenig verloren“ vorkamen, wie Carlo Schmid später in seinen Memoiren schrieb. Kein anderer Staat der Welt dürfte wohl in so einer bizarren Umgebung gezeugt worden sein, was Bundestagspräsidentin Bärbel Bas zu ein paar neckischen Bemerkungen verlockte.

Joachim Gauck, der Altbundespräsident, war der Festredner des Jubiläumsakts. Seine Rede endete militärisch, mit einem offensichtlichen, aber nicht ausdrücklich genannten Bezug auf den Ukraine-Krieg: „Es liegt an uns, ob und wie weit wir bereit sind, an der bitteren Erkenntnis festzuhalten, dass sich nur aus einer Position der Stärke mit denen verhandeln lässt, die ausschließlich die Sprache der Macht sprechen. Es liegt schließlich auch an uns, ob und wie weit wir unsere Demokratie und Freiheit militärisch zu verteidigen imstande sind.“

Beim Lesen der Rede habe ich mich gefragt, was die Mütter und Väter des Grundgesetzes wohl dazu gesagt hätten. Die Grundrechte kamen in Gaucks Rede nicht ausdrücklich vor. Sie sind es freilich, die das Grundgesetz zu einer glanzvollen, zu einer grandiosen Verfassung machen. Es liegt an den Grundrechten, wenn in diesem Grundgesetz das Herz des Staates schlägt.

Die Herzrhythmusstörungen der Corona-Zeit

In den großen Auseinandersetzungen der Bundesrepublik – etwa um die Wiederbewaffnung, um die Notstandsverfassung, um die sogenannte Nachrüstung und um die Atomkraft – suchten und fanden Diskutanten und Demonstranten im Grundgesetz Argumentationshilfe und Unterstützung. Sie erlebten, dass die Grundrechte tatsächlich über dem einfachen Gesetzgeber standen. Sie spürten das kräftige Herz des Grundgesetzes – auch wenn es immer wieder zu Herzrhythmusstörungen kommt.

Die größten und gefährlichsten dieser Störungen gab es in der dreijährigen Corona-Zeit, als die Grundrechte in Quarantäne genommen wurden – und sie auf einmal als Ballast galten im Kampf gegen das Virus. Davon hat bei der Jubiläumsveranstaltung niemand gesprochen. Aber dafür ist auch noch Zeit.

Die Feiern und Veranstaltungen zum 75. Jubiläum des Grundgesetzes haben ja eben erst begonnen. Mein heutiger SZ-Plus-Text ist die Anregung, sich im Rahmen des Verfassungsjubiläums mit den Grundrechten und Corona zu befassen – weil in den Corona-Jahren eine Stimmung entstand, in der Grundrechte als Gefahr betrachtet wurden. Zu den Veranstaltungen im Rahmen des Grundgesetzjubiläums gehören daher nicht nur Festreden à la Gauck. Auch die Sitzungen von Untersuchungsausschüssen und Enquete-Kommissionen zur Aufarbeitung der Corona-Krise gehören zum Jubiläum.
SZPlus Prantls Blick
Fünfundsiebzig - und ein bisschen weise
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Ich wünsche Ihnen Septembertage, die das Herz wärmen.
Heribert Prantl
Kolumnist und Autor der Süddeutschen Zeitung
SZ Mail
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Prantls Leseempfehlungen
Willkommen in Deutschland
Die neue deutsche Geschichte begann 1961 an einem Montag, nach einem viel zu warmen Monat Oktober; sie begann so, dass niemand es merkte – irgendwie mickrig, ohne Trara, ohne Staatsbesuch, ohne Nationalhymnen, ohne feierliche Reden, ohne Händedruck; es gab keine in Leder gebundenen Urkunden, und niemand setzte ein wichtiges Gesicht auf. Als staatsrechtlich bedeutsamen Akt verstand es niemand, dass da zwei Seiten Papier hin- und hergeschickt wurden. Im Text dieser zwei Seiten ging es ja nur um eine Art Liefervertrag: Das Auswärtige Amt in Bonn gab in einem kurzen Schreiben an die türkische Botschaft eine Bestellung auf – und die Botschaft beehrte sich mitzuteilen, dass sie gerne liefern werde. Es handelte sich nicht um die Lieferung von Haselnüssen für bundesdeutsche Kantinen, sondern um die Lieferung von billigen Arbeitern für die bundesdeutsche Wirtschaft, genannt „Vermittlung von türkischen Arbeitnehmern nach der Bundesrepublik Deutschland“.

Dieser Tag hat Deutschland verändert. Es war ein historischer Tag ohne tagesaktuelle Bedeutung. Adenauer hatte soeben in der Bundestagswahl gegen Willy Brandt die absolute Mehrheit verloren und musste Koalitionsverhandlungen mit der FDP führen. In Berlin wurde derweil die Mauer weiter hochgezogen. Damit war das Nadelöhr in den Westen zubetoniert, der Eiserne Vorhang dicht, der Zustrom von Menschen aus dem Osten gestoppt. Die Industrie war aber auf diesen Zustrom angewiesen. Die Wirtschaft boomte, Arbeitslose gab es nicht. Die Hochöfen mussten geschürt, die Autos zusammengebaut werden. Ford und Opel brauchten fleißige und billige Arbeiter, und die Türkei hatte welche. Die Bundesregierung ließ sie kommen: Das war das Anwerbeabkommen.

Es ist dies der historische Hintergrund für das „Deutschlandmärchen“ des Autors Dinçer Güçyeter, geboren 1979 in Nettetal am Niederrhein. In seinem Buch springt er virtuos hin und her zwischen Anatolien und dem Niederrhein, zwischen Kindheit und Erwachsensein, zwischen der Geschichte seiner Großeltern, seiner Eltern und seiner eigenen, zwischen Lyrik und Prosa. Er verwebt viele kleine Stücke zu einem grandiosen Roman, seinem Romandebut.

Er lässt überwiegend Fatma erzählen, seine Mutter, die 1965 nach Almanya, nach Deutschland verheiratet wird. Sie arbeitet die Schulden ihres Ehemanns ab, sie geht in die Fabrik und danach noch zur Arbeit aufs Feld. Sie fügt sich, sie schuftet, sie erträgt – auch die Fernsehbilder aus Solingen, die Bilder vom Brandanschlag im Jahr 1993, bei dem fünf Menschen türkischer Abstammung von Rechtsextremisten ermordet wurden: „Ein Frost wehte nun durch unsere Zimmer … Ich musste tagelang an die Mutter denken, die mit ihrem Kind in den Armen aus dem Fenster gesprungen ist … Sollte es selbst nach dreißig Jahren für uns keine neue Heimat geben?“

Dinçer, ihr Sohn, der Autor, versteckt sich als Achtjähriger am schulfreien Samstagmorgen im VW-Bus, mit dem die Frauen zum Bauern Willi aufs Feld fahren – und arbeitet dann mit. Später verdient er sein Taschengeld im Bordell des Onkels. Im Urlaub in der Türkei weint er im Stall bei der Kuh, der man das Kalb weggenommen hat, um es für das Familienfest zu schlachten – und hört von seiner Mutter, dass sein Verhalten peinlich ist und er sie nicht blamieren soll. Sein Verhältnis zur Mutter ist gespalten. Sie will ihn im Blaumann in der Fabrik, nicht im Theater. Er soll nicht werden wie sein Vater, der es zu nichts bringt.

Das Buch macht wach für die Geschichte und die Geschichten des Lebens von Menschen zwischen den Kulturen. Es macht lachen, es macht traurig. Es ist, wie der Literaturkritiker Denis Scheck auf dem Buchdeckel schreibt, ein Buch, „das einen wie ein Blitzschlag trifft und einen mit einer anderen Sicht auf die Welt zurücklässt“. Das Buch wurde 2023 mit dem Preis der Leipziger Buchmesse ausgezeichnet.

Dinçer Güçyeter, Unser Deutschlandmärchen. Der Roman ist 2022 im Verlag Mikrotext erschienen, er hat 216 Seiten und kostet 25 Euro.
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SZPlus
Lieber Florian
Es gibt wunderbare Zufälle, auch beim Zeitunglesen. Ich hatte mir gerade überlegt, was ich in den ersten Brief an meinen neugeborenen Enkel Florian schreiben soll. Wie soll ich ihn willkommen heißen in dieser Welt? Was wünsche ich ihm? Und während ich überlegte, fiel mein Blick ins Buch Zwei der Wochenend-Ausgabe der SZ: „Liebe Enkelkinder“ stand da – und ich las acht ganz persönliche Briefe an die nächste Generation; zum Beispiel von Elfie Donnelly, der Erfinderin von Bibi Blocksberg und Benjamin Blümchen; oder vom Schriftsteller Rafik Schami.

Es sind anrührende Briefe, Briefe, in denen von den eigenen Fehlern die Rede ist, von den Lehren eines Lebens, von Ängsten und von Visionen. Gut gefallen hat mir der Rat von Rita Süßmuth, der 86-jährigen früheren Familienministerin: „Achtet auf die angelehnten, die halboffenen Türen. Wagt Euch hinein und gestaltet. Ihr werdet überrascht sein, war ihr bereits könnt und hinzugewinnt.“ Ich habe angerührt und angeregt gelesen. Und nun schreibe ich meinen eigenen Brief an die nächste Generation: „Lieber Florian …“
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