Kurt Kister gibt Einblick in deutsche Alltagsmomente
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17. Februar 2023
Deutscher Alltag
Guten Tag,
heute fangen wir mal mit positiven Dingen an. Martha Argerich spielt immer noch hinreißend Klavier, Berlin hat die Wiederholung der Wahl im Großen und Ganzen hingekriegt, und der konzertante „Siegfried“ mit Simon Rattle am Pult des BR-Symphonieorchesters war großartig, auch wenn das manche Kritiker anders sahen. Außerdem ist der Dackel, apropos Kritiker, zu neuen Ehren gekommen. Noch nie hat die Kulturszene so ausführlich über den Dackel und Dackeldinge gesprochen wie dieser Tage. Das erinnert mich an den seligen Frank Schirrmacher, der auch schon wieder neun Jahre tot ist. Schirrmachers Gattin hatte einen Dackel, der Elsa hieß (muss man Dackel eigentlich gendern?). Der FAZ-Herausgeber war dem Tier in zärtlicher Abneigung verbunden, wobei wirkliche Schirrmacher-Kenner sagen, er habe den Hund geliebt. Das mag sein, zumal da Liebe und Abneigung viel näher zusammenliegen, als es manchmal erscheint.

Hin und wieder stelle ich mir vor, welche Tiere Menschen oder Institutionen wären, wenn sie denn Tiere wären, Hunde zum Beispiel. Die SZ wäre ein Bernhardiner, nicht übermäßig schnell, dafür aber stets um das Wohl anderer besorgt. Der Bernhardiner würde das linke Hinterbein etwas nachziehen, hätte es aber geschafft, diesen Drall nahezu elegant wirken zu lassen. Allerdings wäre das Fässchen am Hals des SZ-Bernhardiners vermutlich leer, weil die Geschäftsführung den Inhalt in Flaschen abgefüllt und für 9,99 Euro über eine App verkauft hätte. Die FAZ wiederum wäre ein grauhaariger, älterer Schnauzer, dem man, wenn er unter dem Tisch läge, im Schlaf ansähe, was er schon alles erlebt hat. Die Zeit könnte ein aus einem Tierheim geretteter Hirtenhund sein, der fürs Hüten nicht mehr so gut geeignet war, weil er sich immer mit den Schafen solidarisiert hat. Das „Was für ein Hund wäre“-Spiel ist lustig, vor allem wenn man es mit Hundehalterinnen und Hundehaltern – die muss man gendern – spielt.

Vor ein paar Tagen – Sie haben das wahrscheinlich gehört oder gelesen – hat ein Ballettmaestro in Hannover eine FAZ-Kritikerin mit Hundekot (Dackel) beschmiert. Darüber ist schon so viel geschrieben worden, verständlicherweise vor allem von Feuilletonistinnen, dass ich jetzt nicht auch noch etwas dazu sagen muss. Auf mich ist in Mittelamerika, am Schatt al-Arab und in Mittelasien zwar schon geschossen worden; in Oberbayern wollte mir mal jemand einen Bierkrug über den Kopf hauen, weil ich als junger Journalist bei der Bayernhymne nicht aufgestanden bin. Im Theater aber hat mich noch nie jemand angegriffen, vielleicht weil ich nicht übers Theater in all seinen Ausprägungen schreibe. Theater, Konzerte und Opern können leidenschaftlich machen und schlimmeren Streit auslösen als eine Rentenreform oder die Schuldenbremse. Deswegen ist das Feuilleton auch der leidenschaftlichste Teil der Zeitung, es sei denn, man interessiert sich für Sport. Dann ist natürlich der Sportteil die Heimat der Leidenschaft. Ein Fußballtrainer allerdings würde einen Reporter vermutlich nicht mit Hundekot angreifen.

Was war außerdem noch positiv? Vielleicht die Rückkehr der Demut. Das ist ein schönes altes Wort und setzt sich, sagen die Wörterforscher, aus den beiden altdeutschen Wörtern für „dienen“ und „Mut“ zusammen. Es ist also der Mut zum Dienen, und zwar ein Mut, der anerkennt, dass es Dinge gibt, die größer sind als der Mensch. Franziska Giffey, die in Berlin die Wahl verloren hat, hat anfangs der Woche gesagt, sie nehme das Ergebnis „in Demut“ an. Wenn man nun denken würde, dies könne nur bedeuten, dass sie zurücktritt – schlechtestes SPD-Ergebnis in Berlin seit Erfindung der Currywurst – irrt man sich. Die Woche über hielt sie tapfer und in Demut aus, vielleicht weil die SPD größer ist als Frau Giffey und die Niederlage wiederum größer als die SPD. Sie dient also in Demut der Niederlage, mit deren Hilfe sie Bürgermeisterin bleiben will. Wäre die Berliner CDU ein Hund, hätte man es vielleicht mit einem leicht arthritischen Mops zu tun. Bei der Berliner SPD allerdings fällt mir in aller Demut nicht einmal ein passender Hund ein.

Der letzte Satz war jetzt doch nicht so positiv. Dabei hatte ich, als ich ins Büro fuhr, um den „Deutschen Alltag“ zu schreiben, ein durchaus positives Gefühl. Wenn man jahrelang die meiste Zeit im Heimatbüro verbringt, kann es auch einem eher misanthropisch veranlagten Menschen wohlgefällig sein, gelegentlich andere Menschen, selbst Kollegen und Kolleginnen, zu treffen. Es ist eine Binsenweisheit, dass man das, was man vermisst, erst vermisst, wenn man es nicht mehr hat. Im Auto tönte aus dem, was mal „das Autoradio“ hieß, als ich jung war, ein uralter Song, herbeigeströmt aus der Großen Wolke, in der alle Musik für den monatlichen Preis eines SZ-Bernhardiner-Fläschchens zu haben ist. Es war „I’m going home“ von Ten Years After in der Woodstock-Fassung mit Alvin Lees fantastischen Läufen. Sie müssen das nicht mögen oder kennen. Aber es ist einer dieser Songs, bei dem Grauhaarige und/oder Kahlköpfige in der Abgeschlossenheit ihrer Fahrgastzelle die Lautstärke aufdrehen und einen moderaten Headbanger machen. Es lässt die Welt vergessen. Für ein paar Minuten nur. Sehr positiv.

Wäre ich ein Hund, wäre ich vielleicht Alvin Lee.
Kurt Kister
Redakteur
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