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Horst von Buttlar Chefredakteur |
Liebe Leserinnen, liebe Leser, es ist das spannendste Rennen und eine der größten Shows des Jahres. Nein, ich spreche nicht vom größten Showdown des Jahres, dem zwischen CDU und CSU, sondern von den Grünen, die am Montag ihren Kanzlerkandidaten – oder besser „Kanzler*innenkandidat:in“ – küren. (Ich hoffe, da habe ich jetzt alle mitgenommen.) Die Grünen zeigen, wie es geht und sie zeigen sich so, wie die Union es früher einmal gemacht hat, geordnet und hinter verschlossenen Türen: Das macht die Führungsspitze aus, präsidial und ohne Gemetzel. Es fehlt nur das Frühstück in Wolfratshausen. Die Union wiederum macht es dieser Tage so, wie die Grünen früher einmal waren: mit Streit, Emotionen, Aufstand an der Basis. Es fehlen nur die Eier, die an Köpfe geworfen werden. Die Kür der Grünen, die über Monate medial teils sehr verliebt begleitet wurde, zeugt von einer Disziplin, die der Partei früher fehlte. Sie haben nun eine charismatische Führung, sie haben ein Programm – und wenn jetzt Anton Hofreiter bei der Eigenheimdebatte nicht nachlegt, dann haben sie in wenigen Tagen auch den reibungslosen Start für den Angriff aufs Kanzleramt. (Das vielleicht wirklich dann Kanzler*innenamt heißen wird.) Die Kür gleicht auf den letzten Metern einer Mischung zwischen Release-Party und Marketing-Countdown, was man sonst nur vom neuen iPhone oder der neuen Playstation kennt: Auf der Website gibt es sogar eine „Erfahre es zuerst!“-Kampagne. Jeder kann sich registrieren: „Denn zum ersten Mal in der Geschichte gehen wir in den Wettbewerb um die Führung dieses Landes. Das Gute: Wir haben Zwei, die es können! Wer soll es machen? Trage Dich hier ein und erfahre vor allen anderen, wer unser*e Kanzler-Kandidat*in wird!“ Ich vermute mal: Grüne Verbraucherschützer würden davor warnen, sich dort einzutragen und sensible Daten für einen Scheininformationsvorsprung zu hinterlegen. Die Worte, mit denen der Angriff aufs Kanzleramt umrissen wird, könnten größer nicht sein: „Man muss es mal aussprechen: Wir reden hier über einen Moment, den Lauf der Geschichte zu verändern“, sagt Robert Habeck. Darunter machen es die Grünen nicht mehr. Ihr Programm ist umfassend und von großem Ehrgeiz, es sprudelt vor Aufbruchswillen und Gestaltungsdrang – eine Energie, die diesem Land tatsächlich guttun würde. Also: Die meinen das ernst. Die Grünen wollen nicht nur den Glasfaserausbau schneller vorantreiben, neue FFH-Gebiete ausweisen und eine Quote für Kichererbsenproteine. Sie wollen nicht gestalten, sondern radikal umgestalten. Das kann man gut oder schlecht finden, man sollte es sich bloß klar machen. Dafür gibt es nicht nur große Worte. Das Land wird in großen Zahlen neu vermessen: Ende des Verbrenner-Motors schon 2030, minus 70 Prozent CO2-Emmissionen bis 2030 statt minus 55 Prozent, zwei Prozent des Landes für Windkraft, zwei für Urwald, 30 Prozent ökologische Landwirtschaft, eine Millionen Solardächer pro Jahr. Das geht in dem Tempo weiter. Der Industrieverband BDI hat bereits erschrockene 49 Seiten allein über die 134 Seiten der Grünen geschrieben. Ein bemerkenswerter Vorgang, dass ein Verband eine Detailanalyse zu einem Programm einer Partei schreibt, das ja noch diskutiert wird (und längst nicht ein Koalitionsvertrag ist). Es zeigt, wie ernst die Wirtschaft diese Ambitionen nimmt, weil sich der Zeitgeist gedreht hat. Es zeigt allerdings auch, wie schnell die Kuschel-Fototermine, auf denen Manager die Nähe zu den Grünen suchen, harten Interessen und Konflikten weichen würden. Wobei die Unternehmen nicht warten, sie machen ja bereits ihre Hausaufgaben. Nicht, weil die Grünen ins Kanzleramt ziehen, sondern weil die ESG-Regulierung und CO2-Steuern als Instrumente eingeführt sind und ihre Wirkung entfalten. Am interessantesten in dem Programm ist ein 500-Milliarden-Investitionsplan: Über zehn Jahre soll diese Summe in die sozial-ökologische Transformation gesteckt werden. Wer dieser Tage in die USA schaut, die ja nur noch in Billionen rechnen, sieht die Blaupause: Hier wird die Zukunft gebaut, mit richtig viel Geld. Vermutlich erleben wir ein historisches Zeitfenster, eine glückliche Koinzidenz: Geld, das es fast umsonst gibt, und das dringend für eine Runderneuerung gebraucht wird. Diese Chance zu nutzen, ist klug. Aber an Geld mangelt es diesem Land seit Jahren nicht, sondern an Schnelligkeit und, wie wir dieser Woche erleben, an Pragmatismus. Ob die Kapazitäten für diesen Großumbau reichen, muss sich dann beweisen, wenn die Mehrheit der Deutschen es im Herbst so will. Derzeit liegen den meisten Menschen die Impfkapazitäten vermutlich näher. Und die jetzige Überforderung der Staatsbürokratie lässt eher Zweifel aufkommen, ob so viel Umgestaltungsdrang überhaupt verarbeitet werden kann. Nun aber erst mal die finale Release-Party der Grünen: Wer wird es? Aus meiner Filterblase würde ich derzeit auf Annalena Baerbock tippen. Sie hat zwar keine Regierungserfahrung, aber die höhere Lernkurve. Sie war mehr das Schattengewächs neben Robert Habeck, ist aber sehr gut rausgewachsen. Zumal Habeck sich wiederholt verheddert und entzaubert hat und mit den Ponyfotos bereits Ansätze gezeigt, zu früh zu seinem eigenen Klischee zu werden. Man kann das Land auf Dauer nicht über Metaebenen und Adorno führen. Derzeit reichen noch die Emotionen. Die Grünen treffen bei vielen einen Nerv, sie bedienen Sehnsüchte nach Einigkeit, Klarheit, Führung, Aufbruch und Rettung. Sie sind eine Projektionsfläche für all jene, denen das Land zu erstarrt ist, zu „saturiert, müde, wandlungsunlustig, ja mittelmäßig“, wie Habeck sagt. Da will mancher verständlicherweise erst mal nicht aufs Kleingedruckte schauen, sondern die Energie spüren. Ab Montag haben wir Klarheit, welcher Kopf sie lenken und ausfüllen will. Ich wünsche Ihnen ein schönes Wochenende! |
Ihr
 Horst von Buttlar |
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