Liebe Leserinnen, liebe Leser, eine Grundregel für Katastrophen aller Art lautet: Hinterher haben es erstaunlich viele schon immer gewusst. Oder zumindest seit Jahren geahnt und kommen gesehen. Empört richtet sich der Zeigefinger auf Schuldige, schnell müssen Konsequenzen her. Inmitten des Trümmerfelds interessiert sich niemand mehr genau dafür, wie es zur Katastrophe kam. Weshalb sie sich nicht selten genauso oder so ähnlich ein paar Jahre später wieder zutragen können – und dies tatsächlich auch tun. So lässt sich auch jetzt die öffentliche Debatte an, wenn der tiefe Fall des René Benko analysiert wird. Dieser österreichische Schulabbrecher, ein Schlitzohr, vielleicht sogar ein Betrüger, in jedem Fall aber ein skrupelloser Milliardär, der sich bereichert hat, am Ende sogar bei den armen arglosen Verkäuferinnen im Kaufhof. Sein ganzes Riesenreich aus Einkaufszentren, Luxus-Malls und Hochhäusern war nur ein windiges Kartenhaus, dessen eigentliche Bestimmung es immer war, irgendwann in sich zusammenzustürzen. Vieles davon ist nicht grundfalsch, allein: Es ist auch ein bisschen zu schlicht. Es verschleiert jenseits von Benko die Verantwortlichkeiten dort, wo es welche gab oder hätte geben müssen. Und es lenkt ab von jenen, die Benkos Aufstieg über viele Jahre befeuerten und davon profitierten. Daher, für alle Ermittlungen und Rekonstruktionen in Sachen René Benko fünf wichtige Erkenntnisse, die hoffentlich nicht unter dem ganzen Schutt begraben werden, der nun überall zusammengekehrt werden wird. Benko ist nicht der Totengräber des Kaufhauses In dieser These, die nun immer wieder aufkommt, stecken gleich zwei Fehler: Zum einen, kann Benko schon deshalb nicht der Totengräber von Kaufhof und Karstadt sein, weil er bei diesen beiden Konzernen erst auftauchte, als ihre Agonie schon weit fortgeschritten war. Der oft beklagte Niedergang des Kaufhauses und damit auch vieler deutscher Innenstädte begann Mitte der 90er Jahre mit der Gründung eines Online-Buchhändlers an der US-Westküste – und er setzt sich bis heute jede Sekunde millionenfach mit jedem Klick am Rechner oder Smartphone fort, mit dem wir wieder irgendetwas online bestellen. Das kann man traurig finden, aber es hat nichts mit einem skrupellosen Immobilieninvestor zu tun – sondern mit uns. Ja, Karstadt und Kaufhof hatten diesen Trend wie viele andere Händler verschlafen. Aber es war ausgerechnet René Benko, der innerhalb der letzten zehn Jahre noch mal Hunderte Millionen in die Hand nahm, um das Überleben der Kaufhausketten zu sichern. Erst Karstadt, dann auch noch Kaufhof. Klar, nicht ohne Eigennutz, denn er wollte die Immobilien in den besten Innenstadtlagen. Aber er brauchte zugleich die Kaufhäuser als Mieter, denn ohne langfristige Mieter für die riesigen Betonklötze in den Fußgängerzonen wären seine Immobilien nicht mal halb so viel wert gewesen. Ohne Benko aber, so viel ist ziemlich gewiss, wären die meisten Kaufhäuser, die heute noch offen sind, schon seit Jahren dicht. Dafür können ihm, bei aller Kritik, auch Betriebsräte, Gewerkschafter und Bürgermeister erstmal auch dankbar sein. Dass der Staat Benko immer wieder unterstützte, kann man aus heutiger Sicht leicht kritisieren. Aber dass Ministerpräsidenten und Bürgermeister froh waren, mit Benko wenigstens noch einen gefunden zu haben, der sich für die wuchtigen Kaufhausklötze in ihren Innenstädten interessierte, war für sie (kurzfristig) bequemer und allemal günstiger als die viel größere Sinnfrage: Was soll eigentlich aus deutschen Innenstädten und Fußgängerzonen werden, wenn dort fast niemand mehr einkaufen will? Signa ist nicht Wirecard Der Vergleich zum kollabierten Zahlungsanbieter Wirecard 2020 liegt ja nahe: Eine sagenhafte Wachstumsstory über viele Jahre, immer auch die beharrlichen Zweifel an der Substanz – und dann auch noch ein paar undurchsichtige Manager an der Spitze, die ihr Geschäft nicht zuletzt dank exzellenter Verbindungen in die Politik (und im Fall Wirecard in die Sicherheitsdienste) auf- und ausbauten. Doch hier enden auch die Parallelen. Anders als bei dem ehemaligen Münchner Dax-Konzern fehlen bei Signa nicht einfach ein paar Milliarden, basierte das Geschäft nicht zu einem erheblichen Teil auf Luftbuchungen. Sondern Signa arbeitete mit ganz realen Werten aus Beton, Stein und Glas. In den besten Lagen europäischer Großstädte, es waren die ersten Adressen in Wien, Berlin, Hamburg, München und Zürich. Diese Werte sind auch mit der Pleite der Signa Holding nicht einfach weg, sie sinken vielleicht unmittelbar und in den kommenden Monaten um 20, 30 oder 40 Prozent. Banken, die auf diese Immobilien in den vergangenen Jahren Kredite ausgegeben haben, stehen jetzt aber nicht vor dem Nichts – sie haben häufig die Immobilien als Sicherheit. Die (Buch-)Verluste, die sie machen, werden sie kaum umwerfen. Signa wird auch weder eine Finanzkrise auslösen noch eine weltweite Krise auf dem Immobilienmarkt. Das ganze Geschäft basierte auf den niedrigen Zinsen Das bedeutet nicht, dass René Benko keine Fehler gemacht hätte. Sein letzter Fehler, der aus seinem Immobilienreich mit einem Buchwert von bis zu 28 Mrd. Euro am Ende doch ein wackeliges Kartenhaus machte, war der Glaube, dass die Zinsen ewig niedrig bleiben würden. Genug Wegbegleiter haben ihn spätestens mit dem Anziehen der Inflation ab Mitte 2021 gewarnt, die Zinsen würden bald steigen, er müsse nun konsolidieren und seinen Wachstumsdrang bremsen. Doch Benko konnte offenbar nur höher und größer, darauf basierte sein ganzes Denken und Handeln: Niedrige Zinsen ermöglichten billiges Fremdkapital für neue Projekte, neue Projekte trieben den gesamten Markt, ließen die Mieten und auch die Werte seiner Bestandsimmobilien wachsen – und eröffneten so neue Möglichkeiten für Kredite und neue Bauprojekte. Dass sich bei steigenden Zinsen die ganze Logik seines Geschäfts umkehren würde, muss er verstanden haben – aber er ignorierte es. Vielleicht dachte er auch, er sei stärker als die Mathematik – das ist tragisch, aber ein Verbrecher wird er dadurch noch nicht. Das eigentliche Vergehen: die bewusste Verschleierung Solche Fehler passieren, auch große unternehmerische Fehleinschätzungen, dafür wird er möglicherweise auch zur Verantwortung gezogen werden. Zumindest werden darauf seine Gläubiger dringen, die nun sagen: Wenn irgendwer bei Signa Entscheidungen traf, dann war es Benko – auch wenn er formal gar keine operative Funktion hatte. „Keine E-Mail konnte Signa verlassen, ohne dass Benko diese gekannt hat“, erzählte ein Gesprächspartner meinem Kollegen Thomas Steinmann im Laufe seiner langen Recherchen zum Fall Benko. „Faktische Geschäftsführung“ nennen das die Juristen, und diese wird man Benko in den kommenden Monaten versuchen nachzuweisen. Dass er sich jedenfalls jeder Verantwortung wird entziehen können, ist deshalb ziemlich fraglich. Wenn es im Fall Signa aber ein echtes Vergehen gab, ausgeführt mit Vorsatz und Raffinesse, dann ist es die ganze Konstruktion seines Unternehmensgeflechts. An die 1000 Tochterfirmen hängen auf zig Ebenen unter der großen Signa Holding, und niemand – außer Benko selbst – weiß genau, wer wo genau welche Kredite aufgenommen hat und wo wer mitdrinsteckt. Eine umfassende Bilanz über diese 1000 Tochterfirmen gibt es nicht, wohl auch bewusst nicht: Die letzte im österreichischen Handelsregister hinterlegte Bilanz der Holding, die Transparenz über Werte und Schulden in Benkos Reich hätte herstellen müssen, stammte bis vor Kurzem aus dem Jahr 2019 und umfasst nur ein paar Seiten. Die Bilanz der Signa Holding für 2022, die die dramatische Verschlechterung der wirtschaftlichen Lage der Gruppe illustriert, wurde bis heute nicht veröffentlicht. Die Strafen, die Signas Manager für das Nicht-Erstellen der Bilanzen zahlen mussten, konnten sie intern als Spesen abrechnen. Hier wird es spannend für Ermittler und Staatsanwälte. Aber dann bitte nicht nur mit Blick auf Benkos Rolle, sondern auch auf alle jene, die dieses System über Jahre deckten und abnickten: Wirtschaftsprüfer, Anwälte, Aufseher – auch Politiker. Uralte Erkenntnis: Gier frisst Hirn Benkos Spiel konnte nur so lange gutgehen, weil alle immer mitzogen: Banken, Versicherungen, superreiche Investoren, angelockt von den sagenhaften Renditen, die der Wunderwuzzi aus den besten Innenstadtlagen hervorzauberte. Warnungen, die es gab – etwa die des ehemaligen Porsche-CEOs Wendelin Wiedeking, der schon 2016 bei Signa ausstieg –, wurden nur zu gerne ignoriert oder sogar beiseitegeschoben, weil sie die herrlichen Aussichten trübten. „Gier frisst Hirn“, fassten gleich mehrere Weggefährten Benkos die Motivation seiner Geldgeber zusammen. Insgesamt soll es um mindestens 15 Mrd. Euro an Schulden bei der gesamten Signa-Gruppe gehen. Sofern es besicherte Kredite sind, dürften die Verluste verschmerzbar sein. Wer bei Benko jedoch als Mitgesellschafter einstieg, dürfte jetzt viel Eigenkapital verlieren – allerdings nach vielen Jahren üppiger Gewinne. Mitleid muss man mit Benkos Investoren nicht haben: Sie ignorierten alle Ungereimtheiten und entdeckten erst spät ihre eigentliche Verantwortung als Gesellschafter: nicht nur einzustreichen, wenn es gut läuft, sondern auch nachzuhaken und zu kontrollieren, wenn Zweifel auftauchen. Sie machten Benko groß, wurden mit ihm selbst immer reicher, und verlieren jetzt mit seinem Niedergang. Sie werden es verkraften. Die vielen deutschen Innenstädte, in denen jetzt Baustellen ruhen, weil Signa Rechnungen nicht mehr bezahlen kann, stehen da schon vor größeren Problemen. Benkos Fall ist nicht gleich ihr Ende, doch ihre Zukunft werden sie nun ohne die vermeintlichen Wunderkräfte des Wunderwuzzis entwerfen müssen. Vielleicht wagen Sie sich ja an diesem Wochenende mal wieder in die Fußgängerzonen und auf einen Weihnachtsmarkt – dann genießen Sie den Rummel, den Glitzer und den Glühwein! Ich wünsche Ihnen ein schönes erstes Adventswochenende! |