| Liebe Leserin, lieber Leser, |
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es gibt diese eine Szene, an die man immer denken muss, wenn man den Namen Joan Didion hört. Es ist eine kurze Abfolge von Handlungen und außer Kontrolle geratenen Ereignissen, minutiös beschrieben in ihrem großen Buch „Das Jahr des magischen Denkens“, scheinbar ohne Anteilnahme derjenigen, die sich erinnert. Augenblicke, die über gleich mehrere Leben entscheiden. | Julia Encke | Verantwortliche Redakteurin für das Feuilleton der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung in Berlin. | |
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| Es ist der 30. Dezember 2003. Quintana, Joan Didions und John Gregory Dunnes Tochter, ihr einziges Kind, liegt seit fünf Nächten bewusstlos auf der Intensivstation des Beth Israel Klinikums an der East End Avenue in New York. Was zunächst nach einer Grippe aussah, hat sich als Lungenentzündung und septischer Schock herausgestellt. Es ist Abend, das Ehepaar – seit fast vierzig Jahren sind sie miteinander verheiratet – ist aus dem Krankenhaus zurück. Joan Didion macht Feuer und das Essen fertig, fragt ihren Mann, der ihr gerade erklärt, warum der Erste Weltkrieg der entscheidende Augenblick war, „dem der gesamte Rest des zwanzigsten Jahrhunderts entströmte“, ob er einen Scotch wolle – als dieser plötzlich aufhört zu reden. Seine linke Hand ist erhoben, und er ist zusammengesackt. „Hör auf damit“, sagt sie, die das für einen seiner missglückten Scherze hält. Aber es ist kein Scherz. John erleidet einen schweren Herzinfarkt, sie ruft den Notarzt, der innerhalb kürzester Zeit kommt und den Teil des Wohnzimmers, in dem er liegt, in eine Notaufnahme verwandelt. Sie fährt mit dem Notarztwagen mit ins Krankenhaus, wo ihr ein Sozialarbeiter zugewiesen wird.
| Joan Didion Picture Alliance |
| „Ich machte die Tür auf und sah den Mann in Grün, und ich wusste es. Ich wusste es sofort“, zitiert Didion, während sie sich im Rückblick schreibend an diesen 30. Dezember erinnert, die Mutter eines Neunzehnjährigen, der von einer Bombe in Kirkuk getötet worden war. Diese Mutter war in einer Fernsehdokumentation zu sehen gewesen, der Journalist Bob Herbert hatte sie in der New York Times zitiert: „Aber ich dachte, solange ich ihn nicht reinlasse, kann er es mir nicht sagen. Und dann wäre es – nichts davon wäre passiert.“ Er sagt immer wieder: „Hören Sie, Sie müssen mich reinlassen.“ Und sie sagt immer wieder: „Entschuldigen Sie, aber ich kann sie nicht reinlassen.“ *** Unsere Empfehlungen der Woche: Hitler ein Linker? Volker Weiß über die Rolle der Geschichtspolitik in den Strategien der neuen Rechten Wehrhafter Geist: Kai Sinas Studie über Thomas Mann als politischer Aktivist Kunst der Neugründung: Eine Hamburger Ausstellung zeigt die Geschichte des Rowohlt-Verlags *** Didion erkennt in dieser Verweigerung, die zugleich eine Hoffnung ist, ihr eigenes Denken und ihre eigene Situation an diesem alles entscheidenden Abend. Es ist dieselbe Gedankenfigur, die der israelische Schriftsteller David Grossman (ist das ein Zufall?) in seinem Roman „Eine Frau flieht vor einer Nachricht“ beinahe zeitgleich zur Grundfrage macht: Auch bei ihm hat die Frau eine Vorahnung, dass ihr Sohn sterben wird; dass die Überbringer der Nachricht seines Todes kommen werden. Um den Sohn zu schützen, beschließt sie, nicht zu Hause zu sein. Wenn sie nicht da sei, werde die Hiobsbotschaft nicht ankommen können. Eine Nachricht gebe es schließlich nur, wenn es auch einen Empfänger gebe. Wie die anderen Frauen erhält Joan Didion die Nachricht vom Tod ihres Mannes dennoch. In ihrem Kopf kommt sie aber nicht an. Sie weigert sich lange, seine Schuhe wegzugeben, weil er sie brauchen könnte, wenn er zurückkäme. „Ich weiß, warum wir versuchen, die Toten am Leben zu halten: Wir versuchen, sie am Leben zu halten, um sie bei uns zu behalten. Ich weiß auch, dass, wenn wir selbst leben wollen, irgendwann der Punkt kommt, an dem wir die Toten auslöschen müssen, sie gehen lassen, sie tot sein lassen müssen“, schreibt sie in „Das Jahr des magischen Denkens“ und reflektiert damit den Prozess, um den es darin geht. Es ist ein Buch der Trauer, das Joan Didion für alle, die sie als Stilikone noch nicht kannten, 2005 endgültig weltberühmt machte, mit dem sie den National Book Award gewann. Und das nicht ihr einziges Trauerbuch bleibt. Denn Joan Didion überlebte nicht nur ihren Ehemann, sie überlebte auch ihre Tochter Quitana, die das Ehepaar 1966 adoptiert hatte, als sie ein Baby war. Im August 2005 stirbt Quintana – sie hat sich gerade von ihrer Krankheit erholt – an den Folgen eines Sturzes, einer Gehirnblutung. „Blaue Stunden“ heißt das Buch, das Joan Didion über sie geschrieben hat. Es ist das Werk einer Überlebenden, die das Leben der Tochter anhand von Augenblicken rekonstruiert. Didion geht dabei mit sich selbst hart ins Gericht. Als sie Quintana einmal fragte, ob sie gute Eltern gewesen seien, hatte diese das bejaht und, an die Mutter gerichtet, hinzugefügt: „Vielleicht ein wenig unnahbar.“ Die Worte reichen aus, um nach ihrem Tod die Fragen nicht enden zu lassen: „Habe ich ihr ganzes Leben dafür gesorgt, dass es eine schalldichte Wand zwischen uns gab? Zog ich es vor, das, was sie sagte, nicht zu hören?“, fragt Joan Didion in „Blaue Stunden“. „Verlangten wir von ihr, erwachsen zu sein?“ Diese Woche kam die Nachricht, dass im Verlag Knopf in Amerika am 22. April ein Buch mit Texten erscheinen wird, die die Nachlassverwalterinnen von Joan Didion nach ihrem Tod, am 23. Dezember 2021, in einem unbeschrifteten Ordner gefunden hatten: „Notes to John“ – also Didions Ehemann John Dunne – wird das Buch heißen. Es ist das Tagebuch einer Psychotherapie, die Didion im Dezember 1999 begann, „intimer und ungefilterter als alles, was sie je veröffentlicht hat“, wie die „New York Times“ jetzt berichtet. Es gehe um ihre „Kämpfe mit Ängsten, Schuldgefühlen und Depression, um das angespannte Verhältnis zu ihrer Tochter, um Gedanken über ihre Arbeit und Wirkung“. Ein Buch, auf das ich sehr gespannt bin. Hoffentlich erscheint es auch schon bald in der deutschen Übersetzung. Ob es unser Bild von der großen amerikanischen Autorin Joan Didion verändern wird, wie in den USA jetzt einige vermuten, oder nicht - davon werden wir Ihnen im April auf jeden Fall berichten. Schönes Wochenende und viel Spaß beim Lesen, Ihre Julia Encke
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