Die Krise ist die Mutter des Fortschritts. Nach einem kurzen Blick in den Abgrund haben es die 27 Mitglieder der Europäischen Union geschafft, einige alte Tabus zu überwinden und neue Wege zu gehen. Das Finanzpaket über insgesamt 1,8 Billionen Euro, das die Staats- und Regierungschefs vier Tage lang mühsam geschnürt haben, weist viele Mängel auf. Bei einem Kompromiss zwischen 27 Ländern, die alle ein Vetorecht haben, wird sich die reine Lehre – gleich welcher Art – nie durchsetzen können. Aber alles in allem kann das Paket Europa stärken. Sechs bemerkenswerte Punkte
| Erstens hat es die EU geschafft, mit dem Corona-Hilfsfonds von EUR 750 Milliarden und dem nächsten Siebenjahresbudget der EU zwei große Probleme vergleichsweise schnell zu lösen. Die EU ist handlungsfähig. |
| Zweitens sendet die EU auf diese Art endlich ein überzeugendes Signal der Solidarität innerhalb der Gemeinschaft. Das kann den zuletzt arg strapazierten Zusammenhalt der EU stärken. Gerade in von der Pandemie arg getroffenen Ländern wie Italien dürften es die Pro-Europäer künftig wieder etwas leichter haben, genügend Wähler von den Vorzügen Europas zu überzeugen. |
| Drittens haben es die „sparsamen Vier“ rund um Österreich und die Niederlande geschafft, die Hilfszahlungen an einige Bedingungen zu knüpfen. Damit hat die EU jetzt ein Instrument in der Hand, um Italien zu einigen dringend notwendigen Reformen zu bewegen, beispielsweise in der Verwaltung und dem Justizwesen. Für Italien könnten solche wachstumsfördernde Reformen auf Dauer weit wichtiger sein als die reinen Hilfsgelder aus den neuen EU-Töpfen. Wie gut es funktioniert, bleibt abzuwarten. Aber den Versuch ist es wert. |
| Viertens kann das Paket unmittelbar die europäische und damit auch die deutsche Konjunktur stärken. Zwar werden die ersten Gelder erst 2021 ausgezahlt werden. Europas Mühlen mahlen halt langsam. Aber alleine das Signal der Solidarität und die Gewissheit, dass künftig Gelder fließen werden, kann bereits jetzt das Geschäftsklima und Verbrauchervertrauen in vielen Ländern der EU stärken. Gestärktes Vertrauen in die Zukunft ist oft das beste Konjunkturprogramm. |
| Fünftens kommt Europa fiskalisch voran. Im Normalfall brauchen die EU und die Eurozone keine gemeinsame Fiskalpolitik. Aber in Ausnahmefällen wie der Corona-Krise kann eine gemeinsame Antwort Gefahren eingrenzen. Die EU entwickelt sich zwar nicht zu einer Fiskalunion. Deutschland übernimmt keine Altschulden anderer Mitgliedsländer. Aber der Corona-Fonds schafft einen Präzedenzfall. Bei einer künftigen großen Krise dürfte die EU erneut gemeinsam reagieren und damit die wirtschaftlichen und politischen Schäden einer solchen Krise mindern können. |
| Sechstens hat die EU es nebenbei geschafft, sich mit dem neuen Budgetrahmen für die kommenden sieben Jahre auch über die Folgen des Brexit für den Haushalt der EU zu einigen. | Eckdaten des Corona-Wiederaufbaufonds
| Gesamtvolumen: 750 Mrd. Euro. |
| 390 Mrd. Euro werden als Zuschüsse gezahlt, 360 Mrd. als Kredite vergeben. |
| 70 % der Zuschüsse sollen in den Jahren 2021 und 2022 bewilligt werden, die verbleibenden 30 % in 2023. |
| 30 % der Ausgaben aus dem Wiederaufbaufonds sind für Klima- und Digitalisierungsaufgaben bestimmt. |
| Die Auszahlungen erfolgen in Raten und sind von Re-formen und Projektfortschritten abhängig. Empfänger-staaten müssen der EU vorab Investitions- und Re-formprogramme vorlegen. Geberländer haben zwar kein Vetorecht, können aber in Ausnahmefällen ver-langen, dass der Europäische Rat und nicht nur die Europäische Kommission prüft, ob Empfängerländer Reformen umsetzen und die Gelder sinnvoll einsetzen. |
| Die EU nimmt die Mittel am Kapitalmarkt auf. Die Anleihen werden von 2028 bis 2058 zurückgezahlt. |
| Für die Finanzierung sollen drei neue Finanzquellen erschlossen werden: 1. Eine „Plastiksteuer“, 2. Eine CO2-Grenzausgleichsabgabe, 3. Eine „Digitalabgabe“. | Vorteile überwiegen deutlich Im Vergleich zu den sechs genannten Punkten fallen manche Details des Pakets weniger ins Gewicht. Ob sich der Niederländer Mark Rutte stärker durchgesetzt hat als Angela Merkel oder ob das Verhältnis aus Zuschüssen von EUR 390 Milliarden und Krediten von EUR 360 Milliarden nun optimal ist oder nicht, eignet sich für spannende Diskussionen. Aber bei sehr niedrigen Zinsen und günstigen Rückzahlungsbedingungen spielt das genaue Verhältnis aus Zuschüssen und Krediten nicht die Hauptrolle. Wichtiger ist, dass die Gelder weitgehend sinnvoll eingesetzt werden und die Empfängerländer einige wachstumsfördernde Reformen umsetzen. Um die Bedeutung des Pakets einschätzen zu können, lohnt sich ein Blick zurück. Im März und April hatte sich die Lage in Europa bedenklich zugespitzt. Auf die schreckliche Pandemie haben fast alle Mitglieder der EU zunächst vor allem national reagiert. Statt frühzeitig ein klares Signal der Solidarität mit den arg gebeutelten Ländern wie Italien und Spanien zu senden, hat gerade Deutschland zunächst nur an den eigenen Bedarf gedacht, während sogar Russland und China fernsehwirksam Hilfstransporte organisierten. Dass Italien mit Gütern teils minderer Qualität versorgt wurde, ging dabei fast unter. Das Ergebnis war eine Welle anti-deutscher und anti-europäischer Emotionen in Italien. Auf Dauer hätte dies den Bestand der EU samt ihrem Binnenmarkt und damit eine wesentliche Grundlage des deutschen Wohlstandes gefährdet. Die Gefahr, dass dereinst anti-europäische Populisten wie beispielsweise die neofaschistischen Fratelli d’Italia in Rom die Macht übernehmen könnten, ist damit nicht gebannt. Aber sie hat abgenommen. Für Europa ist auch das eine gute Nachricht. Dieser Artikel erscheint auch bei Capital Online. Dr. Holger Schmieding Chefvolkswirt Berenberg +44 7771 920377
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