Bekenntnisse eines Börsenbriefschreibers
Bekenntnisse eines Börsenbriefschreibers von Torsten EwertSehr verehrte Leserinnen und Leser, dieser Tage fiel mir eine Anzeige auf. „Gewinnen an der Börse ist sooo einfach“, stand da. Ja, wirklich – mit drei „o“ in „so“! Und dann kam: „Aber ein bisschen was müssen Sie schon wissen!!“. Diese beiden Sätze leiteten die Werbung für eine einschlägige Finanzzeitschrift ein. Eine in jeder Hinsicht provokante Aussage, finde ich. Und eine Aussage, die zugleich völlig richtig und völlig falsch ist und damit so weit von der Wahrheit entfernt, wie man es sich nur denken kann. Ein provokanter und amüsanter richtig falscher Slogan Das offensichtlich Provokante dieses Slogans dürfte Ihnen selbst sofort ins Auge fallen. (Wer hat je ernsthaft behauptet, dass Börse einfach sei?) Viel amüsanter finde ich persönlich, dass diese Werbung suggeriert, dass man nur „ein bisschen“ Wissen an der Börse braucht. Das eben jene Zeitschrift liefert. Die folglich doch nur an der Oberfläche kratzt. Ob diese Gedankenkette von den Werbetextern beabsichtigt war? Aber was ist falsch und was ist richtig an dieser Aussage? Und wo liegt die Wahrheit, die von dieser Aussage so völlig ignoriert wird? Falsch ist natürlich, dass die Börse einfach ist. Und richtig ist, dass Sie ein bestimmtes Wissen brauchen, um an der Börse erfolgreich zu sein. Aber welches Wissen und wie viel? Mich hat daher diese Anzeige an zwei Fragen erinnert, die mir von Lesern meiner Börsenbriefe häufig im persönlichen Gespräch gestellt wurden, z.B. auf meinen Seminaren oder bei gelegentlichen Lesertreffen. Die erste Frage drückt eine gewisse Ehrfurcht aus: „Wo haben Sie eigentlich Ihr ganzes Wissen über die Börse her?“ Die zweite Frage ist dagegen provokant: „Wenn Sie so viel über die Börse wissen und scheinbar so erfolgreich sind, warum schreiben Sie dann Börsenbriefe und nutzen die Zeit nicht lieber, um mit Ihrem ‚tollen‘ System noch mehr Geld zu verdienen?“ (Auf beide Fragen gehe ich später direkt ein.) Zwei Fragen, die zur Wahrheit führen Diese beiden Fragen zielen nämlich genau auf jene Wahrheit, die von der eingangs erwähnten Werbeanzeige so schnöde links liegengelassen wird: Wie werde ICH an der Börse erfolgreich und welches Wissen brauche ICH dafür? Anders als oft im „normalen“ Leben geht es bei dieser Frage mal ausdrücklich um Sie persönlich, also jede(n) individuelle(n) Anleger(in) oder Trader(in). Daher das großgeschriebene „Ich“. Sie müssen für sich persönlich herausfinden, welcher Trading-/Anlagestil zu Ihnen passt. Erst wenn Sie diese Erkenntnis haben, können Sie darangehen, sich gezielt das nötige Wissen darüber anzueignen. Bis dahin irren Sie im Nebel und sammeln nur Wissensbruchstücke auf. Das ist aber nicht schlimm, sondern völlig normal. So läuft das auch im „richtigen“ Leben ab, wenn Sie z.B. ein Hobby beginnen. Zunächst probieren Sie unbekümmert herum. Wenn die Ergebnisse dieser ersten Versuche Sie ermutigen, weiter zu machen, werden Sie besser werden wollen. Sie saugen alles auf, was Sie zu Ihrem Thema finden können. Oft stellt sich dabei heraus, dass es vielfältiger ist, als Sie anfangs vielleicht gedacht haben. Was Sie unbedingt über sich herausfinden müssen Wenn Sie sich z.B. dem Backen verschrieben haben, werden Sie sich vermutlich irgendwann entscheiden (müssen), ob Sie Brote, Kuchen oder Torten backen wollen. Und auf jedem dieser Gebiete gibt es noch weitere Möglichkeiten zur Spezialisierung und viele Tricks und Kniffe für Detailprobleme. Sie werden sich also konzentrieren und fokussieren. Und genau das sollten Sie auch an der Börse tun! Sie müssen unbedingt herausfinden, was Ihnen wirklich liegt. Für die meisten Börsennovizen ist das Trading der Heilige Gral und dabei vor allem das Day-Trading. Aber abgesehen davon, dass letzteres natürlich ein Vollzeitjob ist, den nicht jeder ausüben will, ist Day-Trading auch nicht für jeden die geeignete Strategie an der Börse. Ich persönlich bin sogar der Meinung, dass nur die wenigsten wirklich für das Day-Trading geeignet sind – genauso, wie nicht jeder zum Formel-1-Rennfahren oder Schauspielern taugt. In vielen Gesprächen mit Lesern meiner Börsenbriefe und Teilnehmern meiner Seminare habe ich den Eindruck gewonnen, dass etliche Börsianer einem Idealbild eines Traders hinterherlaufen – ähnlich wie manche im „richtigen“ Leben einem Schönheits- oder Gewichtsideal. Manche sind sogar regelrecht erleichtert, wenn ich sage, dass dies gar nicht nötig ist. Finden Sie Ihre Wohlfühl-Geldanlage! In meinem Geldanlage-Brief habe ich daher ein System entwickelt, wie Sie sich Ihre persönliche Wohlfühl-Geldanlage zusammenstellen können, und zwar abhängig von Ihrer konkreten Lebenssituation und Ihren Vorlieben bzw. Ihrer Risikotoleranz. Der Name „Wohlfühl-Geldanlage“ ist dabei Programm: Am Ende sollten Sie sich mit dieser Geldanlage wohlfühlen, also gut schlafen und mit den Ergebnissen zufrieden sein. Falls Sie darüber hinaus noch an der Börse traden wollen, müssen Sie auch Ihre persönliche Trading-Strategie finden. Das betrifft zum einen die konkrete Methode bzw. die Hilfsmittel, mit denen Sie arbeiten (z.B. Charttechnik, Indikatoren, Elliott-Wellen) als auch den Zeitrahmen (z.B. Minuten-, Stunden- oder Tagescharts), wodurch auch die Trading-Frequenz weitgehend bestimmt ist, sowie die konkreten Instrumente (z.B. Aktien, Rohstoffe, Devisen), die Sie handeln. Für eine Entscheidung müssen Sie selbstverständlich sehr viel ausprobieren, aber in der Regel brauchen Sie nicht alle denkbaren Kombinationen durchspielen. Wenn Sie z.B. mit Elliott-Wellen nicht klarkommen, wird sich daran nichts ändern – egal, ob Sie Aktien, Devisen oder Rohstoffe damit zu analysieren versuchen. Und wenn Ihnen Day-Trading zu stressig oder langweilig ist, dann ist es gleichgültig, ob Sie sich dabei nach der Charttechnik oder der Candlestick-Technik richten. Erst die Methode, dann der „Rest“ Aus meiner Sicht ist es am einfachsten, sich zunächst für eine Methode zu entscheiden. Die genannten klassischen Analysetechniken wird wohl jeder Trader-Neuling ausprobiert haben; vielfach auch in Kombination, um die Ergebnisse zu verbessern. In dieser Phase ist es völlig normal, wenn Sie alles Mögliche ausprobieren und so viele Informationen sammeln, wie es geht. Sie sollten aber nach einigen Wochen oder Monaten intensiver Beschäftigung an einen Punkt kommen, an dem Sie die große Vielfalt der Methoden auf zwei oder drei zurechtstutzen. Dann können Sie sich Ihrem bevorzugten Zeitrahmen und den verschiedenen Instrumenten widmen. Sobald Sie „Ihre“ Methode gefunden haben, können Sie in analoger Weise ausprobieren, welche Zeitrahmen und Instrumente am besten zu Ihnen passen. Diese Punkte sind erfahrungsgemäß weniger kritisch. Der Zeitrahmen scheint durch Ihren bisherigen Tagesrhythmus vorgegeben zu sein, z.B. durch Ihren Job. Aber lassen Sie sich dadurch nicht einengen. Probieren Sie an freien Tagen gezielt etwas anderes aus! Und bei den Instrumenten sollten Sie auf die Details achten. Manche Trader mögen die „Unberechenbarkeit“ von Aktien nicht, weil nicht nur allgemeine Marktnachrichten und individuelle Meldungen des jeweiligen Unternehmens die Kurse bestimmen, sondern z.B. auch solche von Konkurrenten oder der Branche. Devisen sind zwar rund um die Uhr zu handeln, aber dadurch oft auch eine Quelle des Overtradings, weil manche Trader nicht loslassen können. Und auch die sporadische Impulsivität von Rohstoffen ist nicht jedermanns Sache. Ein Segen für die Fragenden Sie sollten auch so früh wie möglich in die Tiefe gehen und versuchen, „alles“ über Ihr Spezialgebiet zu erfahren. Das bevorzugte Mittel der Wahl dafür ist heutzutage das Internet. Die Fülle an Informationen ist dazu – wie auf fast allen anderen Gebieten – inzwischen unüberschaubar. Aber irgendwo werden Sie „hängenbleiben“, weil Sie etwas finden, das Ihnen nützlich erscheint. Und dann dürfen Sie sich fragen, ob es nicht ein Segen ist, dass der oder diejenige Wissen preisgibt, das Sie für sich nutzen können. Ob das ein kostenloses oder ein kostenpflichtiges Angebot ist, wollen wir zunächst dahingestellt sein lassen. Wichtig ist doch, dass Sie Antworten auf Ihre Fragen erhalten! Hier können wir wieder den Bogen zu Ihrem Hobby schlagen: Auch dabei werden jede Menge Fragen auftreten, die Ihnen heutzutage „das Netz“ meist sofort beantworten kann. Es gibt also nicht nur an der Börse viele „Schreiberlinge“, die Antworten auf Fragen geben, die sie oft zuerst selbst hatten. Und hier wie dort darf man sich zu Recht fragen, was diese Leute treibt. Warum behalten sie nicht ihre Tipps für sich und backen damit besseren Kuchen, machen schönere Fotos oder traden ein noch größeres Vermögen zusammen? Was mir das Schreiben bringt An dieser Stelle kann ich nur für mich persönlich sprechen: Weil ich durch das Schreiben jeden Tag zu einem besseren Trader und Anleger werde – selbst, wenn ich nur „dumme“ Fragen beantworte. Ich habe in meinen Börsenbriefen schon oft betont, dass Fragen von Lesern mich auf die Spur neuer Artikel bringen, bei deren Recherche ich neue nützliche und interessante Sachen lerne. So brachte mich vor einigen Jahren eine Diskussion mit einem Leser auf die Frage, wie die Abwicklung eine „Pleite-Fonds“ in der Praxis tatsächlich funktioniert. Bei Fonds und ETFs ist bekanntlich das Vermögen der Anleger durch Auslagerung in ein Sondervermögen geschützt, so dass eine Pleite der Fondsgesellschaft oder deren depotführender Bank nicht zu einem Verlust für die Anleger führt. Aber wie dieser Prozess in der Praxis tatsächlich laufen könnte, ergab sich erst durch Schriftwechsel und Diskussionen mit der BaFin. Und das führte dann dazu, dass ich meinen Lesern Tipps geben konnte, wie sie auch größere Geldbestände kurzfristig sicher anlegen sollten. Ein anderer Leser machte mich bei einer Diskussion über Dividendenaktien auf einen Aspekt aufmerksam, den ich zwar prinzipiell kannte, aber nicht in dem konkreten Kontext, nach dem er gefragt hatte. Und schließlich lernte ich durch meine „Schreiberei“ einen Trader und Anleger kennen und schätzen, der die Charts nach einer völlig anderen Methode analysiert als ich. Ich kenne diese Methode zwar prinzipiell, wende sie aber nicht im Detail an. Durch den gegenseitigen Austausch unserer Ergebnisse ergeben sich mitunter ebenfalls neue, aufschlussreiche Erkenntnisse für mich. Zwei Maximen für Ihr (Börsen-)Leben Meine Maxime ist daher (mit Verlaub): Es gibt keinen Narren, von dem man nicht etwas lernen kann. André Kostolany würde wohl ergänzen, „was in das Mosaik einer Börsenspekulation hineinpasst“. Aber auch ohne Bezug zur Börse ist der Kontakt mit anderen „Narren“ oft sehr anregend. Ein mir bekannter Vermögensverwalter, der seine Gedanken ebenfalls durch viel Schreiben sortiert, bezeichnet sich daher auch als „Student des Lebens“ – eine sympathisch zurückhaltende Selbstreflektion in der Finanzszene, wo immer noch die eher dominant auftretenden Typen in der Mehrheit zu sein scheinen. Mein Wissen erwerbe ich mir also durch meine regelmäßige Arbeit als Börsenbriefschreiber. Dabei muss ich ein Thema wählen und dazu recherchieren; mir also Kenntnisse darüber anzueignen, die meinen Horizont erweitern. Würde ich das tun, ohne durch das Schreiben der Börsenbriefe dazu gezwungen zu werden – z.B. wenn ich nur mein privates Vermögen im stillen Kämmerlein verwalte? Vermutlich nicht, jedenfalls nicht in diesem Umfang. Die Themenvielfalt, die ein Börsenbrief verlangt, zwingt mich zudem dazu, mich mit Aspekten zu beschäftigen, die ich sonst wohl ignorieren würde. Das Schreiben treibt mich also aus meiner Komfortzone. In diesen neuen Gefilden, in die ich mich dabei vorwagen muss, stoße ich mitunter auf neue Ideen für meine Investments oder die meiner Börsenbriefe. Die Antwort auf eine provokante Frage Und damit kommen wir zu der provokanten Frage, ob das Börsenbriefschreiben mich nicht vom Geldverdienen durch Trading abhält – bzw. ob mein Trading so schlecht ist, dass ich mit dem Börsenbriefschreiben mehr verdiene. Nach dem zuvor Gesagten sollte klar sein, dass die Antwort darauf nicht so einfach zu geben ist. Den Gewinn, den ich durch neue Investmentideen mache, auf die ich bei meinen Recherchen für meine Artikel stoße, müsste ich gegenrechnen gegen Trades, die ich vielleicht gemacht hätte. Oder auch nicht – wenn ich durch das ewige Schmoren im eigenen Saft zermürbt worden wäre. Wie auch immer – mit meiner „Schreiberei“ (bzw. den gedanklichen Vorarbeiten dazu) halte ich mich an eine Regel, die John Rockefeller, der Gründer der Standard Oil Company, aufstellte: „Lieber eine Stunde über Geld nachdenken, als eine Stunde für Geld arbeiten.“ Das ist eine gute Maxime für jeden Anleger und Trader. Während Anleger sicherlich eher nach neuen Anlageideen Ausschau halten dürften, sollten Trader eher ihre jüngsten Ergebnisse, ihre Arbeitsweise und ihre mentale Verfassung überprüfen. Unter dem Strich ist daher das Schreiben für mich ein Gewinn, und zwar nicht nur in materieller Hinsicht. Und es würde mich sehr freuen, wenn Sie das auch für sich so sehen. Mit besten Grüßen Ihr Torsten Ewert
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