Kurt Kister gibt Einblick in deutsche Alltagsmomente
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6. Januar 2023
Deutscher Alltag
Guten Tag,
wenn man einen jüngeren Menschen zu mitleidigem Lächeln oder auch zu herablassendem Grinsen animieren will, muss man ihm nur die eigene Faxnummer mitteilen. Fax ist so was von uralt wie etwa Videorekorder, Kohleofen oder Cordhose. Na ja, Cordhose ist dann uralt, wenn sie jemand trägt, den der Faxgrinser für uralt hält, also zum Beispiel einen Putschprinzen, einen Lyriker aus den Siebzigerjahren oder einen evangelischen Bischof a.D. im Garten. (Warum wirken evangelische Bischöfe eigentlich oft intellektueller als ihre katholischen Kollegen?) Bei Frauen sind Cordhosen irrelevant und auf keinen Fall reaktionär. Allerdings sind Cordhosen auch bei Faxgrinsern dann okay, wenn man sie als Statement trägt. Fast alles, was als Statement getragen werden kann, ist okay. Ein Fax kann nicht als Statement getragen werden.

Der Cordhose jedenfalls wird Unrecht getan. Sie wird nahezu diskriminiert, auf jeden Fall mit zu wenig Respekt und nicht genug wertschätzend behandelt. Dem könnte man dadurch entgegentreten, dass die nächste Documenta von der Cordgrupa kuratiert wird, die Kassel zu einem überzeitlichen Statement für Cordhosen (m/w/d) machen könnte. Zum Beispiel ließe sich die Martinskirche postchristomäßig komplett in dunkelblaues Cord einpacken. Und Bundespräsident Frank-Walter (ein Vorname wie aus Cord) Steinmeier würde in einem schilfgrünen Cordanzug die Eröffnungsrede halten.

Warum ich in der ersten Woche des neuen Jahres ausgerechnet auf Faxe, Cord und so Zeug komme? Ganz einfach: Die Bundespost, die keine Bundespost mehr ist, hat zum Jahresbeginn den Versand von Telegrammen eingestellt. Braucht man nicht mehr, nutzt keiner mehr, gibt Messengerdienste, SMS, immer noch Mails. Für jüngere Leser, sollten sich solche in diesen Text verirren: Mit Telegrammen hat man früher ganz schnell etwas ganz Wichtiges mitgeteilt. Es waren Nachrichten auf Papier, die dann ein Eilbote im Umschlag zustellte. In der Hotellobby lief manchmal ein Spirou herum, der ausrief: „Telegramm für Herrn Doktor Braun!“ Der Unterschied zum Messengerdienst Telegram besteht darin, dass den nicht die Bundespost erfunden hat, sondern dass das irgendwelche Russen getan haben. (Ja, ich weiß, die Bundespost hat das Telegramm auch nicht erfunden. Aber immerhin hat sie Telegramme verbreitet.) Und außerdem wird bei Telegram ganz viel Unwichtiges noch viel schneller verbreitet als mit Telegrammen.

Nein, das ist kein Plädoyer für die Rückkehr des Telegramms. Überflüssiges kann, muss und soll verschwinden, auch wenn das heute Überflüssige einst vielleicht das Herz überfließen ließ. „Liebe dich immer noch stop komme morgen stop“ war so ein kleinbuchstabiger, nahezu preisgünstiger Telegrammtext. Weil es im Telegramm keinen Punkt gab, stand am Ende des kurzen Satzes immer stop. Stop mit einem p. Heute schreibt man stopp mit zwei p. Das ist Fortschritt.

Der aus den Neunzigerjahren bekannte Populärphilosoph Harald Schmidt hat jüngst in der Zeitschrift für Ideengeschichte, die leider nie beim Friseur ausliegt, sehr gut begründet, warum es besser ist, heute zu leben. (Was implizit natürlich auch bedeutet, dass es gut ist, wenn das Telegramm verschwindet.) Schmidt also sagte im Interview, das im weiteren Sinne, je nach Blickwinkel, das Verschwinden oder das Vorwärtsschreiten des Gestern zum Thema hatte, dass es einerseits im 19. Jahrhundert „gewisse Elemente“ gegeben habe, die er faszinierend finde. Andererseits: „Ich lebe wahnsinnig gern genau jetzt. Kaputte Zahnwurzel im 19. Jahrhundert?“

So ist es. Kaputte Zahnwurzel ist als solche ein Elend. Weil aber heute der Zahnarzt genug Betäubungsmittel bereithält und außerdem manchmal ein hervorragender Handwerker ist, erledigt man eine kaputte Zahnwurzel en passant, sozusagen im Vorüberliegen. Ältere Zahnärzte übrigens tragen gern Cordhosen. Das nur so nebenbei.

Etliche Unternehmen, die mal dem Bund gehörten oder immer noch gehören, haben heute vieles aufgegeben, was sie früher im Angebot hatten. Die Bundespost zum Beispiel das Telegramm, die Telefonzelle und die Briefmarkenautomaten, aber leider auch die verlässliche Briefzustellung. Ähnlich ist es bei der Bundesbahn, die heute auch kein „Bundes-“ mehr im Namen hat, aber auch keine Pünktlichkeit mehr bietet. Und, drittens, die Bundeswehr, die noch dem Bund gehört, aber sehr viele nicht fahrende Schützenpanzer, nicht fliegende Hubschrauber und nicht lieferbare Kampfpanzer ihr Eigen nennt. Wahrscheinlich steckt hinter diesem selten beschriebenen Bundes-Defizit eine komplizierte Verschwörung. Sollte der Spiegel mal an der griechisch-türkischen Grenze recherchieren.

Und dann ist doch wieder alles nicht so schlimm, wie es manchmal aussieht. Das Land wird ohne Telegramme zurechtkommen, an den Gelegenheitsservice der Bahn hat man sich ohnehin notgedrungen gewöhnt. (Es sei denn, man steht drei Stunden auf dem Bahnsteig in Ulm, der ein besonders menschenfeindlicher Bahnsteig ist.) Lassen wir im Sinne des neujährlichen Optimismus das nahezu letzte Wort noch einmal Harald Schmidt aus dem besagten Interview: „Ich gehe jetzt mal davon aus, dass wir noch warmes Wasser haben, wenn das Gespräch hier abgedruckt wird.“ Abgesehen davon, dass man nicht „ich gehe davon aus“ sagen soll – auf der Phrasenskala eine Neun, gegen zehn tendierend –, hat er ja recht. Es wird alles nicht so schlimm. Stop
Kurt Kister
Redakteur
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