| | | | | 4. August 2024 | | Prantls Blick | | Die politische Wochenschau | | | |
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| | | Prof. Dr. Heribert Prantl | | | |
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| | | die Nachricht über die Freilassung des verurteilten russischen Auftragsmörders Wadim Krassikow aus dem Gefängnis durch die Regierung Scholz hat bittere alte Bilder wachgerufen. Dazu gehört vor allem ein Bild aus dem Herbst 1977, das den von der RAF entführten Arbeitgeberpräsidenten Hanns Martin Schleyer zeigt, ein Pappdeckelschild um den Hals, auf dem in GroÃbuchstaben steht: âSeit 31 Tagen Gefangener.â Diese Entführung war Teil der von der RAF sogenannten Aktion âBig Rausholeâ, mit der diese vergeblich versuchte, die Entlassung von inhaftierten Terroristen aus dem Gefängnis in Stammheim zu erpressen. Am 5. September 1977 war Schleyer entführt, drei Polizeibeamte waren dabei erschossen worden. Am 19. Oktober 1977 fand die Polizei die Leiche des ermordeten Schleyer im Kofferraum eines Autos. Der Sohn Schleyers hatte noch versucht, die Regierung des SPD-Bundeskanzlers Helmut Schmidt zur Rettung seines Vaters zu verpflichten. Das höchste Gericht lehnte das ab. Sein Urteil besagt, dass das Grundgesetz eine Schutzpflicht nicht nur gegenüber dem Einzelnen, sondern auch gegenüber der Gesamtheit der Bürger begründe. Die Festlegung auf ein bestimmtes Mittel könne, so die Verfassungsrichter damals, schon deshalb nicht erfolgen, âweil dann die Reaktion des Staates für Terroristen von vornherein kalkulierbar würdeâ. Helmut Schmidt hat später wiederholt bekannt, er fühle sich noch immer verstrickt in Schuld, habe aber richtig gehandelt. Und Bundespräsident Walter Scheel ging dieser Schuld in seiner Trauerrede bei der Beerdigung Schleyers nicht aus dem Weg: âIm Namen der deutschen Bürger bitte ich Sie, die Angehörigen von Hanns Martin Schleyer, um Vergebung.â Ich war damals noch nicht Journalist, ich war noch Student der Rechtswissenschaften. Im strafrechtlichen Seminar haben wir erregt über den Erpressungsversuch der RAF diskutiert. Die Frage, die sich damals stellte, stellt sich noch heute: Wie hart muss der Staat Terroristen gegenüber bleiben, um nicht durch Nachgiebigkeit die Gewalt zu beflügeln? Was ist Staatsräson: stählerne Unerbittlichkeit? Taktieren? Flexible Unnachgiebigkeit? Im Fall Schleyer hatte der Staat zu taktieren versucht, aber in Wahrheit nie daran gedacht, den Forderungen nachzukommen. Auch die Familie Schleyers hatte der Staat ebenso wie die Terroristen wochenlang im Glauben gelassen, es könnte ein Austausch in Betracht kommen. Der damalige Generalbundesanwalt Horst Herold nutzte die Zeit, um den Terroristen auf der Spur zu kommen und das Versteck Schleyers zu finden. Eine Panne hat das verhindert. Verrucht unehrlich Die Regierung des SPD-Kanzlers Olaf Scholz hat anders entschieden. Sie hat einen verurteilten Mörder (der einen Mörder ermordet hatte) freigelassen, um so eine von den Amerikanern gewünschte Gefangenenaustauschaktion zu ermöglichen. Sie hat der Erpressung des Täters hinter dem Täter, also von Präsident Putin, nachgegeben. Recht war das nicht. Und Recht wird das nicht dadurch, dass die deutsche Politik eine Vorschrift der Strafprozessordnung nutzt, um damit der verruchten Aktion einen juristischen Anstrich zu geben: Die Freilassung des verurteilten Mörders Krassikow war nicht Recht, sondern die Simulation von Recht. Man tat so, als gebe es einen Paragrafen, der diese Gefangenenbefreiung legitimiert. Es gibt ihn nicht. Dieser Paragraf 456 a der Strafprozessordnung ist für ganz andere Konstellationen gedacht und gemacht. Darüber schreibe ich in meinem heutigen SZ-Plus-Text âDas war nicht Recht, das war eine Simulation von Rechtâ.
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| | | Das war nicht Recht, das war eine Simulation von Recht | | |
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| Damit hat die Regierung Scholz nicht nur dem Recht geschadet, sondern der Lauterkeit der gesamten Aktion. Die Aktion war von dem Willen zur Nothilfe getragen; sie war getragen von der ehrlichen Absicht, 16 von Putin willkürlich eingekerkerte Menschen aus lebensgefährlicher Haft zu befreien. Man darf das kritisieren, man darf und muss sich über die rechtsmissbräuchliche Begründung der Entscheidung erregen â aber man darf das nicht in überheblicher Weise tun. Jede der denkbaren Entscheidungen barg und birgt Risiken. Man wünscht sich bei allen Zweifeln an der Entscheidung von Scholz, dass sie sich als richtig herausstellt. Ich wünsche Ihnen einen erholsamen Sommer. âPrantls Blickâ geht jetzt in die Ferien. Meinen nächsten Newsletter erhalten Sie, pünktlich zu gewohnter Zeit zugestellt, am Sonntag, 8. September. Ihr
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| Heribert Prantl | | Kolumnist und Autor der Süddeutschen Zeitung |
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| | | | | | | | | Ein Buch für Trump, ein Buch für die AfD | | Das schockierende an James Baldwins fulminantem Essay âKein Name bleibt ihm weit und breitâ: Seit seiner Erstveröffentlichung im Jahr 1972 hat er von seiner Aktualität nichts eingebüÃt. Baldwin war damals in den USA ein berühmter Autor, eine zugleich verehrte und geschmähte Ikone der Bürgerrechtsbewegung. Zeitzeugen sind häufig fragwürdige Zeugen, ihre scheinbar objektiven Berichte Manifestationen trüber Subjektivität. Baldwin aber weist im Essay â halb Autobiografie, halb Kommentar zur politischen Lage â den Verdacht, ein objektiver Zeuge zu sein, von Anfang an zurück. Sein Blick ist entschieden subjektiv. Der Afroamerikaner Baldwin erlebt den alltäglichen Rassismus, der Homosexuelle Baldwin die sexuelle Diskriminierung. Der Schriftsteller Baldwin, der mit Martin Luther King und Malcom X befreundet war, hat seine Wut und seine Trauer, sein Entsetzen und seine Hoffnung in Romanen und Essays unvergleichlich zur Sprache gebracht. Einzigartig ist seine Empathie. Sie macht Baldwins Werk zurecht für den Pianisten Igor Levit zu einer âSprach-, Verständnis- und Lebensschuleâ. Baldwin wurde vor 100 Jahren, am 2. August 1924 in Harlem (New York City) in ärmlichen Verhältnissen geboren. Er hatte das Glück und das Unglück, Zeitzeuge in den USA der 50er- und 60er-Jahre zu sein, in denen die Sprache der Gewalt, vor allem der rassistischen Gewalt, die Gesellschaft beherrschte und an der sie zu zerbrechen drohte. Er schreibt über die Hoffnung nach dem Marsch auf Washington im August 1963, bei dem Martin Luther King gerufen hatte: âI have a dream!â Und er schreibt über die zerstörte Hoffnung nach Kings Ermordung: âIch wollte nicht um Martin weinen; Tränen waren vergeblich. Vielleicht hatte ich auch Angst, und damit war ich bestimmt nicht allein, nicht aufhören zu können, wenn ich einmal anfing. Wir hatten so viel zu beweinen, wenn wir einmal weinten - so viele von uns, so früh zu Fall gebracht.â King und der 1965 ermordete Malcom X. waren die Stimmen der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung, und Baldwin klagte, er schreibe immer zwischen Attentaten. Dabei hatte er natürlich den Rassismus in den USA im Blick, das machte ihn zum Essayisten. Aber stets hatte er auch eine Vision vor Augen. Und das macht ihn zum groÃen Romancier: âEin Mensch stellt sich nicht leichtfertig gegen die eigene Gesellschaft, viel lieber wäre er unter seinen Landsleuten zuhause, als von ihnen verhöhnt und verachtet zu werden. Und auf einer Ebene ist der Hohn der Menschen, sogar ihr Hass, berührend, weil er so blind ist.â Bei seinem Tod im Dezember 1987 war Baldwin weithin vergessen. Seit einigen Jahren aber ist eine Baldwin-Renaissance in Gang. Eine Ursache war die Black Lives Matter-Bewegung, die die Aufmerksamkeit wieder auf das Werk Baldwins lenkte, eine andere Raoul Pecks groÃartige Doku âI Am Not Your Negro". Das groÃe Interesse, das seine Bücher seit Jahren in Deutschland finden, lässt sich auch mit ihrer Neuausgabe bei dtv in der ebenso klugen wie einfühlsamen Ãbersetzung von Miriam Mandelkow erklären. Wer Baldwins Essays und Romane liest, ist für alle Zeit vor der Dummheit des Rassismus gefeit. Darum sei den Rassisten in der AfD dieser Baldwin besonders ans Herz gelegt â wie in den USA auch Donald Trump und seinen Gesinnungsgenossen. Wer ihnen zuhört, versteht Baldwins Hoffnung: âDie Party des Westens ist vorbei, und die Sonne der WeiÃen ist untergegangen. Basta.â James Baldwin: Kein Name bleibt ihm weit und breit. Aus dem Englischen von Miriam Mandelkow, mit einem Vorwort von Ijoma Mangold, München 2024, 271 Seiten, 22 Euro. | | | | |
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| | | | | Der stille Widerständler | | âKennst du das Land, wo die Kanonen blühn? / Du kennst es nicht? Du wirst es kennenlernen! Dort stehen die Prokuristen stolz und kühn / in den Büros, als wären es Kasernen.â Das Gedicht ist vom groÃen Poeten Erich Kästner. Zum fünfzigsten Todestag verteidigt ihn der 39-jährige Schriftsteller Christian Baron im Feuilleton der SZ gegen den Vorwurf, sich mit dem Terror der Nazis arrangiert zu haben. Sein Verbleib in Deutschland wurde ihm später immer wieder zum Vorwurf gemacht und als Bestätigung für eine unpolitische Haltung bewertet. Baron tritt dem in der SZ-Montagsausgabe vom 29. Juli vehement und überzeugend entgegen. | | | |
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